"Lasst uns mit diesem Paulus gehen"


Vikarin Angelika Beer

Die Online-Textpredigt für den Sonntga, 5. Juli 2020, kommt wieder aus dem Hermannstädter Kirchen bezeirk. Vikarin Angelika Beer teilt mit uns ihre Gedanken zum Predigttext aus dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom im 12. Kapitel:

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32, 35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25, 21–22). Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Gott segne diese Worte an unseren Herzen.

Liebe Lesende,

wie mag Paulus ausgesehen haben, als er diese Zeilen geschrieben hat? Wie saß er wohl beim Schreiben oder wie stand er an einem Schreibpult? In welcher Haltung hat er seinen Stängel aus Schilfrohr immer wieder in die Tinte getaucht und das auf die Papyrusblätter geschrieben, was ihm wichtig geworden ist? Die Gemeinde in Rom kannte er nicht. Nur einige Frauen und Männer, die er am Schluss seines Briefes herzlich grüßen lässt: Priska und Aquilla, Andronikus und Junia, Persis und Rufus, Philologus und Julia und ein paar andere. Waren diese alle im Streit miteinander und mit ihren Nachbarn? Wie kommt es, dass es Paulus wichtig ist, dies zu schreiben: Seid auf Gutes bedacht gegenüber allen Menschen. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben?

Ich glaube, Paulus war nachdenklich, als er diese Sätze geschrieben hat, ruhig und in sich gekehrt. Vielleicht so, wie ich ihn gestern in Seiburg am Altar gesehen habe. Paulus als hohe, aus edlem, dunklen Holz geschnitzte Figur. Ein bärtiger Mann in langem Gewand, die linke Hand am Kinn und mit der rechten Hand hält er unter dem linken Arm ein Buch und es sieht so aus, als hätte er es gerade zugeklappt und noch zwei Finger als Lesezeichen drin. Einer, der nachdenkt und nicht belehren will. Ein Gelehrter, der selbst auf der Suche nach Antworten ist. Diese Paulus-Figur hat mich fasziniert. Vielleicht sah Paulus so aus, als er den Christinnen und Christen in Rom geschrieben hat und vielleicht ist er so vor seinem Schreibpult hin und her gegangen: in sich gekehrt und nachdenklich, mit seiner Heiligen Schrift, der Hebräischen Bibel in der Hand, innerlich auf der Suche nach einem Weg. Mit diesem Paulus vor Augen lese ich die Sätze noch einmal: 

Seid auf Gutes bedacht gegenüber allen Menschen. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.

Mit allen Menschen, zwei Mal steht das da, wie eine Betonung: mit allen Menschen. Ist das nicht viel zu viel? Wer kann denn so etwas schaffen? Geht es nicht kleiner?

Und doch: wir sind alle Landsleute und unsere Heimat ist diese Erde. Diese Verbindung zu allen Weltgegenden und mit so vielen verschiedenen Menschen spüren wir gerade in einem besonderen Maß. Überall wird – wie hier im Gottesdienst – Mundschutz getragen und darauf geachtet, sich nicht die Hände zu reichen. Seid auf Gutes bedacht gegenüber allen Menschen. Gegenüber allen, mit denen ihr zu tun habt, allen, die euch begegnen, allen, von denen ihr hört und allen, mit denen ihr verbunden seid – einfach, weil ihr auch Menschen seid.

Das ist ein edles Ziel, lieber Paulus, aber wo soll ich denn hin, wenn die Wut mich packt, wo soll ich hin mit meinem Zorn über Ungerechtes, wo soll ich hin mit dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein? Paulus scheint diese Fragen zu kennen, bleibt vor seinem Schreibpult stehen, hält inne und schreibt dann: Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes. Der Zorn Gottes – noch so ein Hammer. Der eifernde Gott. Weil Gott kein toter Stein ist. Gott ist es nicht egal, wie es uns geht, er sieht und spürt, was dem Leben und der Lebendigkeit dient und was eben nicht, was Leben und Lebendigkeit zerstört. Gott, der in Jesus ganz hautnah all dies selbst erlebt hat, die Wut, den Zorn, das Fragen und die Verzweiflung.

Friede sei in deinen Mauern. So lautet der Titel der Jerusalemer Predigten eines Pfarrers, die er vor über 20 Jahre veröffentlicht hat. In einer dieser Predigten schreibt er – mit Bezug auf den jüdischen Theologen und Philosophen Pinchas Lapide: »Entfeindung des Feindes heißt vielmehr, dass ich meinen Gegner behandeln kann, als wenn er schon mein Freund wäre […]. Das ist nicht leicht. Aber es wird umso eher möglich sein je mehr wir wissen, dass das letzte Wort eben nicht von uns gesprochen wird, sondern von Gott.« Das kann entlasten, dass nicht wir das letzte Wort haben, sondern Gott. Und wir uns in allen Kämpfen des Alltags zurücknehmen können, innehalten wie Paulus vor seinem Schreibpult und unsere Füße auf den Weg des Friedens richten. Leicht ist es nicht immer, aber es geht. Und der stattliche Paulus in Seiburg am Altar, der große Gelehrte trägt übrigens keine Schuhe, er ist barfuß. Lasst uns mit diesem Paulus gehen auf den Weg des Friedens, kreativ und zuversichtlich und mit dem Satz in den Ohren: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Amen.