Pfr. Seidner: “Drücken wir den Weißrussen die Daumen“


Kundgebung für Swetlana Tichanowskaja kurz vor den Wahlen in der Hauptstadt Minsk. (Bild: wikimedia.org / Homoatrox)

Pfarrer Uwe Seidner aus Wolkendorf im Burzenland hat sich in der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien (EKR) durch zahlreiche Reisen, viele Kontakte und profundes Studium ehemaliger Sowjetrepubliken als gefragter Ansprechparter und kompetente Adresse für Einschätzungen über die ehemalige UdSSR entwickelt. Im Interview mit evang.ro erläutert er seine Beobachtungen zu den jüngsten Ereignissen in Weißrussland. Das Interview führte Stefan Bichler.

Seit 26 Jahren regiert der 65jährige Altkommunist Alexander Lukaschenko in Weißrussland (Belarus) autoritär. Der "letzte Diktator Europas", wie er oft bezeichnet wird, ließ für den 9. August inszenierte Wahlen durchführen, um sich eine sechste Amtszeit zu gönnen. Oppositionelle Gegenkandidaten wie etwa Sergei Tichanowski wurden festgenommen und an der Kandidatur gehindert. Nachdem Tichanowskis Ehefrau Swetlana sich entschloss, anstelle ihres inhaftierten Mannes zu kandidieren, entwickelte sich eine breite Unterstützungsbewegung.

Obwohl einzelne, von Wahlkommissionen veröffentlichte Teilresultate für einen Erdrutschsieg von Frau Tichanowskaja sprechen, ließ die Führung in Minsk offiziell verkünden, Lukaschenko hätte über achtzig Prozent der Stimmen erhalten. Eine plumpe Fälschung, wie viele Beobachter übereinstimmend meinen. Die Staatsoberhäupter Russlands, der Türkei und Chinas beeilten sich zwar mit Glückwünschen für den "Wahlsieger", doch mittlerweile mehren sich selbst in Moskauer Regierungskreisen Stimmen, die das veröffentlichte Resultat als Fälschung bezeichnen.

Swetlana Tichanowskaja wurde unterdessen von den weißrussischen Behörden massiv unter Druck gesetzt (ihr Ehemann befindet sich immer noch in der Gewalt der Lukaschenko-Behörden) und ist ins benachbarte Litauen geflohen. Die Volksseele kommt seither nicht zur Ruhe: In mehreren weißrussischen Städten, vor allem in der Hauptstadt Minsk, protestieren Menschen gegen das veröffentlichte Wahlresultat und stoßen auf den brutalen Widerstand von Lukaschenkos Sonderpolizeieinheiten. Auch Todesopfer sind bereits zu beklagen.

Zu den letzten Nachrichten aus Weißrussland haben wir mit Pfarrer Uwe Seidner gesprochen:

•    evang.ro: Herr Pfarrer, Sie haben zuletzt im Oktober 2019 Minsk besucht. Wie kam es dazu?

Pfr. Uwe Seidner: Wir organisieren seit 2012 regelmäßig Begegnungsreisen mit den besten Schülern der 7. und 8. Klassen aus Neustadt im Burzenland. Diese Exkursionen, an denen insgesamt schon über siebzig Jugendliche teilnehmen konnten, stehen unter dem Motto "Perspektivenwechsel" und tragen den Titel "Aus Nachbarn werden Freunde". Wir befassen uns dabei zum Beispiel mit Regionen, in denen Rumänen als historische ethnische Minderheit leben oder auch mit Gegenden, in denen die Generation zukünftiger Entscheidungsträger aus der Gemeinde zeitgeschichtliche Zusammenhänge vor Ort studieren kann. So haben wir vor einigen Jahren etwa Wolgograd (Stalingrad) besucht. Die Reise im Herbst 2019 führte uns von Moskau über Sankt-Petersburg und Minsk nach Lemberg.

•    Welche Eindrücke haben Sie in Minsk gewinnen können?

Wir wurden in der rumänischen Botschaft empfangen, wo wir uns mit den Diplomaten über das Leben in Weißrussland unterhalten konnten. Das war sehr interessant und aufschlussreich. Ausserdem hatten wir eine Begegnung mit der evangelisch-lutherischen Pastorin Olga Stockmann, einer sehr freundlichen Person! Sie hat uns erklärt, dass sie sich in ihrer Stadt sehr sicher fühlt und war mit Kritik am Regime ausgesprochen zurückhaltend. Ich habe sie in den vergangenen Tagen per E-Mail kontaktiert um mich nach ihrem und dem Wohlergehen der Gemeinde zu erkundigen. Bisher habe ich aber noch keine Antwort. Die Behörden haben ja vor Kurzem die Internetversorgung unterbrochen.

•    Vor sechs Jahren, als die Proteste der ukrainischen Demokratiebewegung auf dem "Maidan" in Kiew eskalierten, habe ich mit Ihnen ein ähnliches Interview geführt. Die Parallelen drängen sich auf: Inwiefern sind die Entwicklungen von Kiew 2016 mit jenen von Minsk 2020 vergleichbar?

Ich denke, dass die Entwicklung eine unterschiedliche sein wird. Das seinerzeitige ukrainische Regime hatte weniger Unterdrückungsmöglichkeiten. Lukaschenkos totalitärer Apparat funktioniert deutlich effizienter, als dies damals in der Ukraine der Fall war. Weißrussland ähnelt ziemlich stark einer alten, sowjetischen Diktatur. Sogar der KGB heißt dort immer noch KGB! Andererseits gibt es für die Demokratiebewegung in Weißrussland auch einen Vorteil: Die Ukraine war und ist eine gespaltene Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen im Osten des Landes wollte sich mit den westlichen Strömungen ja nicht identifizieren und will das bis heute nicht. Weißrussland dagegen ist viel kompakter. Nur der engere Staatsapparat steht wirklich hinter Lukaschenko.

•    Wie schätzen Sie nun die Reaktion Moskaus ein?

Grundsätzlich würde man erwarten, dass Putin Lukaschenko unterstützt. Immerhin ist Weißrussland extrem eng mit der Russischen Föderation verflochten, es gibt sogar eine Zollunion und nur noch sehr lockere Grenzkontrollen. Der russische Staatpräsident war auch unter den ersten Gratulaten Lukaschenkos. Aber wir müssen trotzdem mit Überraschungen rechnen. Minsk hat sich in jüngerer Vergangenheit – trotz unveränderter Härte nach Innen – langsam begonnen, der Europäischen Union gegenüber zu öffnen. Wir haben das auch auf unserer Reise erlebt: Mit klassischen Bürokratieschikanen waren wir als EU-Bürger nur in Russland konfrontiert, während man uns in Weißrussland freundlich und ordentlich behandelt hat. Sollte diese zögerliche Öffnung Moskau nachhaltig verärgert haben, würde ich auch nicht ausschließen, dass Putin sich eventuell von Lukaschenko abwendet.

•    Es gibt in Zentral- und Westeuropa Menschen, die – ähnlich wie im Fall Ukraine – nun davor warnen, sich in Weißrussland "einzumischen". Dieses Land sei als russische Einflußsphäre zu respektieren und der "Westen" möge gefälligst sein "imperialistisches Gehabe" aufgeben und Moskau nicht provozieren. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Ich kann solche Argumente nicht unterstützen. Ich denke, Polen und Litauen haben sich in den letzten Tagen sehr gut verhalten, indem sie für die Demokratiebewegung in Weißrussland Partei ergriffen haben. Die EU war bisher meist zu schwach und zu lasch! Wenn die Menschen in Weißrussland sich eine Demokratisierung wünschen, sollten wir das unterstützen. Das bedeutet ja nicht, dass Brüssel sofort mit einem übereilten EU-Beitrittsangebot an Minsk unnötig provokante Signale nach Moskau senden muss. Eine positive Entwicklung in Weißrussland ist aber jedenfalls in unserem Interesse! Wünschenswert wäre für das Land eines Tages eine Entwicklung wie in den baltischen Staaten. – Drücken wir den Weißrussen die Daumen!

•    Vielen Dank für das Gespräch!