"Gott lässt sich finden"


Vikarin Angelika Beer

Die Textpredigt für den 14. Sonntag nach Trinitatis, also den 13. September 2020, hat uns die Vikarin des Gemeindeverbandes Neppendorf (Kirchenbezirk Hermannstadt), Angelika Beer, gesendet. Sie setzt sich dabei mit Lukas 19, 1–10 auseinander.

Liebe Gemeinde,

von wo hat man den besten Überblick über Neppendorf? Wenn man vom Flughafen die Alba Iulia-Chaussee herunterfährt oder oben auf der Strada Aviaţiei steht, auf der sogenannten „Burg“? Auf der Dachterrasse meiner Nachbarn oder direkt aus dem Flugzeug, wenn der Landeanflug auf Hermannstadt über Neppendorf geht? Da sieht man in die Höfe und Gärten, man sieht Kinder spielen, Autos und Züge fahren, Hunde herumlaufen und auch Hühner scharren. Und kann weiter sehen über den Zibin, über die Stadt und zu den Bergen. Ein Überblick, der ein Weitblick ist. Auf der Dachterrasse meiner Nachbarn sehe nicht nur ich herunter und in die Weite, da sehen mich auch die anderen, die gerade in ihren Höfen und Gärten oder auf der Straße sind. Sie winken, grüßen oder rufen etwas zu.

Es ist schön, so einen Überblick zu haben. Wenn man dann aber die Nachrichten schaut, auf das neue Schuljahr blickt, das morgen anfängt, ist es gar nicht so einfach, den Überblick zu behalten oder einen Überblick überhaupt zu bekommen. Da ist laute und leise Not, das sind Bilder von Demonstrationen und von Gewalt gegen die, die demonstrieren, da sind Bilder von Waldbränden und orangefarbener Luft, da sind Bilder von einem verkohlten Flüchtlingslager. Laute und leise Fragen, laute und leise Unzufriedenheit, laute und leise Wut.
Den Predigttext für heute lesen wir im Evangelium nach Lukas im 19. Kapitel (Verse 1–10):

Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit dem Namen Zachäus. Dieser war ein Oberzöllner und war reich. Er sehnte sich danach, Jesus zu sehen und zu erfassen, wer er ist, und konnte es nicht wegen der Menge; denn der Gestalt nach war er klein. Da lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, damit er Jesus sehe; denn dort sollte er durchziehen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, beeile dich, steig herunter; denn heute muss ich in deinem Haus bleiben. Da beeilte er sich, stieg herunter und nahm ihn freudig auf.
Als die Menge das sah, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er zu rasten eingekehrt. Zachäus aber stand auf und sprach zum Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden mit etwas betrogen habe, gebe ich es vierfach zurück.

Jesus sprach zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. Der Menschensohn ist gekommen, das Verlorene zu suchen und zu retten.


Gott segne diese Worte an unseren Herzen.

Zachäus, der Chefzöllner in Jericho, ist für seine Position erstaunlich leise. Er hört, dass Jesus in die Stadt kommt und denkt still bei sich: „Das will ich nicht verpassen.“ Um ihn auch wirklich zu sehen und um auch mitzubekommen, was um diesen Jesus herum passiert, klettert er, der Chefzöllner, ohne groß Lärm zu machen in einen Baum hinein und setzt sich auf einen Ast. So hat er einen guten Überblick, ist aber selbst geschützt von den vielen Blättern vor den Blicken Anderer.

Draußen vor der Stadt war das ganz anders, als Jesus vorbeiging. Da saß ein blinder Mann, der – als er mitbekommen hatte, dass Jesus in der Nähe ist – so lange schrie, bis er gehört wurde: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Und Jesus fragte den Blinden direkt: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Der Mann antwortete: „Herr, dass ich sehen kann.“

Zachäus, der Chefzöllner, macht es anders. Auch er will etwas von Jesus, spürt, dass dieser Mensch, dieser Gelehrte, dieser Wanderprediger ihm etwas geben kann. Ihm, der materiell gesehen alles hat. Er sehnte sich danach, Jesus zu sehen und zu erfassen, wer er ist. Und dann sitzt er auf einem Baum und wartet still, dass Jesus vorbeigeht. Er sucht etwas und wird selbst gefunden. Gerade so, als hätte nicht nur er nach Jesus Ausschau gehalten, sondern als hätte Jesus nach Zachäus Ausschau gehalten. Zachäus, ein etwas eigentümlicher Name und es gibt kaum Eltern, die ihrem Sohn diesen Namen geben. Die Herkunft des Namens Zachäus ist nicht ganz klar, vermutlich bedeutet der Name „Gott hat sich erinnert“. Gott hat nach Zachäus Ausschau gehalten, ihn gesucht und gefunden. Und es gibt tatsächlich eine Handvoll Kirchen, die nach ihm benannt sind, Zachäuskirchen: „Gott hat sich erinnert.“

Zachäus, der Chefzöllner von Jericho, wurde später dann Bischof von Cäsarea Maritima, einer Hafenstadt nördlich von Tel Aviv.

Zachäus hat sich nach Jesus gesehnt, und gleichzeitig hat Jesus ihn gesucht und ihn in den Blättern eines Maulbeerfeigenbaums gefunden.

„Phantasie ist immer Vorbote des Glaubens.“ habe ich in einem Kommentar über die Zachäusgeschichte gelesen. „Phantasie ist immer Vorbote des Glaubens.“ Die nicht ganz so alltägliche Idee, auf einen Baum zu steigen und die nicht ganz so alltägliche Idee, beim Gehen durch eine Stadt nicht auf den Weg, sondern zu einem Baum hochzuschauen und in das Blätterwerk hinein zu sprechen: „Zachäus, beeile dich, steig herunter; denn heute muss ich in deinem Haus bleiben.“

Das brachte den eigentlichen Überblick für Zachäus, den Chefzöllner: Dass Jesus in sein Haus kommt, dass Jesus sein ganz privates Leben sieht, nicht nur den Hof und den Garten wie von der Dachterrasse der Nachbarn oder aus einem Flugzeug, sondern das Haus des Zachäus von innen und auch sein Herz. Das hat Zachäus gespürt und sich und das, was er hat, geöffnet. „Ich teile, was ich habe und gebe denen, die ich übers Ohr gehauen habe, mehr zurück, als ich muss.“ „Heute ist diesem Haus Heil, Rettung widerfahren“, sagt Jesus darauf.

Du wurdest gesucht, gefunden und gesehen, dein Haus und dein Herz. Und aus dem Teilen wird Heilen. Zachäus teilt, was er hat und wird heil. Und er nennt Jesus Kyrios, Herr. Wie der Blinde vor der Stadt schrie: Kyrie, eleison. Herr, erbarme dich. Für den Lauten und für den Leisen ist Jesus der Herr geworden, der Chef. Ihn haben sie gesucht und von ihm wurden sie gefunden. Und er gibt einen neuen Überblick, mit seinem Blick sortierten sich die Dinge neu, das Leben, der Alltag. Auch unser Alltag – wenn die Schule nun beginnt, wenn die Nächte länger werden und wenn es uns schwer fällt, den Überblick zu behalten.

Wenn wir die Nachrichten sehen und uns fragen, was zu tun ist. Kyrie eleison. Herr, erbarme dich. Wir können Gott suchen, im Gebet, im Singen, im Bibellesen, wenn wir miteinander zusammenkommen. Wir können Gott suchen im Spazierengehen, auf einem Berggipfel, meinetwegen auf einem Ast in einem Baum sitzend, bevor die Blätter abfallen. Wir können Gott suchen. Gott lässt sich finden. Und Gott sucht uns.

Amen.