Der Israelsonntag


Vikar Benedikt Jetter

Vikar Benedikt Jetter aus Deutschland lebt derzeit in Hermannstadt und arbeitet für die Stiftung Kirchenburgen der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien (EKR). Er hat am 10. Sonntag nach Trinitatis (16. August 2020) in Großau und Reussdörfchen gepredigt und uns seine geistlichen Gedanken zur Verfüguing gestellt.

Liebe Gemeinde, heute, am 10. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest, feiern Christen in vielen Kirchen den Israelsonntag. Der Israelsonntag wurde so in das evangelische Kirchenjahr eingebaut, dass er möglichst nah am 9. Tag des jüdischen Monats Aw liegt. Am 9. Aw nämlich gedenken Juden der Zerstörung des salomonischen Tempels im Jahre 586 vor Chr. und der Zerstörung des herodianischen Tempels im Jahr 70 n. Chr. Am heutigen Tag zeigen wir zusammen mit vielen Christen unsere Solidarität. Wir nehmen die qualvollen Verlusterfahrungen wahr und ertragen gemeinsam mit unseren Brüdern und Schwestern den stechenden Schmerz.

An der mehrfachen Zerstörung des Tempels als des bedeutendsten Gebäudes des jüdischen Glaubend waren Christen zwar nicht schuld – man müsste fast sagen: ausnahmsweise nicht schuld – an der Zerstörung, Unterdrückung und Missachtung unzähliger jüdischen Menschen jedoch haben Christen im Laufe der Geschichte entscheidend mitgewirkt. Wir haben von den grausamen Ungerechtigkeiten immer wieder gehört und müssen das heute nicht alles explizit wiederholen.

Das Verhältnis Kirche – Israel

Wichtig ist mir heute vor allem, zu betonen, dass unsere Kirchen in den letzten Jahrzehnten sehr vieles aufgearbeitet haben. Das war auch bitter nötig. Dialoge mit jüdischen Gemeinden wurden nach dem 2. Weltkrieg erfreulicherweise wieder aufgenommen, schrittweise wurden neuen freundschaftliche Verbindungen aufgebaut und gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat man ganz bewusst auch die theologische Aufgabe angegangen, das Verhältnis von Kirche & Israel zu klären. Einfach scheint mir diese Verhältnisbestimmung ganz und gar nicht zu sein: Man muss fragen: Was unterscheidet Christentum und Judentum? Was verbindet Christen mit Juden? Gehören sie untrennbar zusammen? Und wenn ja, warum genau? Und was hat Gott damit eigentlich zu tun?

Eine der am breitesten angelegten Erklärungen wurde im Jahre 2001 erarbeitet von der sogenannten GEKE, von der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Zu dieser Gemeinschaft von beinahe 100 Kirchen gehören unter anderem meine Landeskirche Württemberg, die Ev. Kirche A.B in Rumänien (EKR) sowie die Lutherische als auch die Reformierte Kirche mehrheitlich ungarischer Sprache hierzulande. Sie sehen, dieser Verständigungsprozess auf der Ebene des europäischen Protestantismus war groß angelegt. Das Ergebnisdokument nennt sich „Kirche und Israel“. Weil die Ergebnisse für den heutigen Gedenktag so zentral wichtig sind, möchte ich kurz die sieben wichtigsten Einsichten auflisten:

1) die Erkenntnis der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens,
2) die Einsicht in die unlösliche Verbundenheit der Kirche mit Israel,
3) die Anerkennung der zentralen Rolle des Staates Israel für das Judentum, bei gleichzeitigem Bemühen um eine gerechte und friedliche Lösung des Nahostkonflikts,
4) das Eingestehen christlicher Mitverantwortung und Schuld an der Schoa,
5) die Unvereinbarkeit des Antisemitismus und aller Formen von Judenfeindschaft mit dem christlichen Glauben.
6) die Anerkennung der bleibenden Erwählung des Volkes Israel,
7) die Absage an die Judenmission.

Der Apostel Paulus & die Gefahr der Überheblickeit

Soweit. Sie sehen, liebe Gemeinde, es geht hier mitunter um Politik, internationales Recht und ethnische Konflikte, also um weit mehr als nur um die Frage nach dem Verhältnis des Alten Testaments zum Neuen Testament. Apropos Neues Testament: Der Apostel Paulus schreibt in seinem Römerbrief einen sehr emotionalen Abschnitt: Kapitel 9 bis 11. Er selbst hatte sich vom unerbittlichen jüdischen Christenverfolger zum eifrigen Christen gewandelt. Nun bittet er im Römerbrief inständig seine Mitchristen, nicht in allzu menschlicher Engstirnigkeit das eine gegen das andere, das Christliche gegen das Jüdische, auszuspielen und damit Gott kleiner zu machen als er ist. Paulus schreibt:

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. (Römer 11,25-32)

Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen.

Der Text hat es in sich. Um ihn in aller Tiefe zu verstehen, bräuchte man im Grunde viel Zeit: einen ganzen Tag Bibelarbeit, oder ein ganzes Leben. Oder mehr als ein menschliches Leben, nämlich einen Einblick in Gottes Perspektive. Jedenfalls spricht Paulus von einem Geheimnis, von einem Mysterium. Bevor Paulus erklärt, worin dieses Geheimnis besteht, begründet er, warum er es der Gemeinde überhaupt mitteilt: „damit ihr euch nicht selbst für klug haltet“. Offensichtlich hielten sich einige Leute für besonders klug, sonst hätte Paulus das nicht so schreiben müssen. Schauen wir mal, ob Paulus klüger ist. Oder ob er so weise ist, sich für weniger klug als Gott zu halten.

Laut Paulus besteht das Geheimnis darin, dass ein Teil des Volkes Israel verstockt ist. Das klingt nun nicht gerade wie ein Lob. Allerdings sagt Paulus hier nicht, dass das Volk sich selbst verstockt, sondern, dass es gewissermaßen durch eine höhere Macht verhärtet wird. Von Gott nämlich. Auch das klingt nun nicht gerade positiv. Warum um alles in der Welt sollte Gott sein eigenes auserwähltes Volk verstocken? Es ist, zugegeben, nicht das erste Mal, dass Gott das Verständnis seines Volkes verstockt. Jedes Mal, wenn er das getan hat, könnte man sagen, hat er versucht, bei seinem Volk einen Lernprozess zu initiieren. Was könnte das diesmal sein? Paulus schreibt, Israel müsse etwas Geduld haben und warten, „bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist“. Heiden, das sind schlicht und einfach alle anderen Völker, also auch wir. Wir sind ein Teil der Heiden. Und damit wir zum erwählten Volk hinzukommen können, hat Gott Israel teilweise verstockt. Die Kirche hat also nicht dem Volk Israel seine Daseinsberechtigung genommen und das Judentum ersetzt. Das Neue Testament hat nicht einfach das Alte ersetzt. Eher andersherum: Das Alte Testament wird durch das Neue Testament geweitet; das auserwählte Volk wird geöffnet für Menschen aus allen Völkern der Erde. Dann wird letzten Endes, schreibt Paulus weiter, „ganz Israel errettet werden“. So werden alle Völker mit und in Israel errettet werden. Dann wird Gott wohl auch die zeitweilige Verstockung aufheben. Dann werden Menschen aus allen Völkern, dann wird – hoffe ich persönlich – die gesamte Welt Gott erkennen und sich ehrfürchtig vor dem Schöpfer allen Lebens verneigen.

Israel wird also erlöst. So jedenfalls hat Gott es verheißen. So hat er es in seinem Bund versprochen und immer neu durch Propheten bestätigt. Klar, die Propheten haben immer wieder auch kräftig schimpfen müssen, aber am Ende haben sie doch meist wieder Licht am Ende des Tunnels gesehen und im Tiefsten ihres Herzens gespürt, dass Gott sein Volk nicht im Stich lässt. An dieser Stelle könnten wir das Kapitel schließen und sagen: Gott öffnet also die Verheißung des erwählten Volkes für alle Völker der Erde. Alle werden mit hineingenommen und dürfen teilhaben an Geborgenheit in Gottes warmen Händen.

Doch Paulus legt hier erst richtig los: Er schreibt: „Nach dem Evangelium sind die Juden Feinde um euretwillen“. Es herrscht hier also keineswegs Friede, Freude, Eintracht. Juden teilen nicht die Überzeugungen der Christen. Zumindest nicht alle. Das Evangelium des Neuen Testamentes ist für Juden nicht der entscheidende Maßstab. Beispielsweise erkennen sie Jesus nicht als den Christus, als den Gesalbten, als den Messias an. Sie glauben nicht, dass Gott sich darin gezeigt hat, dass er vor lauter Liebe und Leidenschaft den Menschen in aller Schwachheit in der Passion und am Kreuz begegnet ist. Diese und viele weitere Meinungsverschiedenheiten sorgen dafür, dass wir, in Paulus‘ Worten, Feinde sind. „Aber“, fährt der Apostel fort. „Nach der Erwählung sind die Juden Geliebte ... Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ In dieser Aussage liegt einer der Schlüssel für das Verhältnis Kirche-Israel. Wenn Gott mit Israel einen Bund geschlossen hat, hat er einen Bund geschlossen. Punkt. Und dieser wird nicht gebrochen. Zumindest nicht vonseiten Gottes. Vonseiten des Volkes Israel freilich wird der Bund immer wieder gebrochen. Das gilt nun aber, liebe Gemeinde, für Christen ebenso. Wer von Ihnen könnte je behaupten Gottes Gebote allesamt gehalten zu haben? Wer könnte behaupten, sich zu allen Zeiten an Gottes 10 Leitlinien für ein würdiges und schöpfungsgemäßes Leben orientiert zu haben? Wenn Gottes Treue von unserer Treue abhängen würde, wäre längst Hopfen und Malz verloren und Paulus könnte sich seine Briefe sonst wohin stecken. Das ist dem Apostel wohl bewusst. Darum warnt er uns Mitchristen: haltet euch nicht selbst für klug! Haltet euch ja nicht für klüger als die Juden! Denn ihr, liebe Mitchristen, habt auch nicht immer euer Vertrauen auf Gott gesetzt. Und trotzdem habt ihr Gottes Barmherzigkeit spüren dürfen. Weil Gott sein Volk Israel, das immer wieder aufmüpfig wurde, öffnen wollte, sodass ihr aus allen verschiedenen Völkern der Erde dazukommen und Teil des einen auserwählten Volkes werden könnt. So ähnlich verhält es sich mit dem Volk Israel. Sie setzen derzeit auch nicht ihr Vertrauen auf Gott, wie er sich im Neuen Testament zeigt. Sie lassen sich nicht von der Art der Gnade beschenken, wie Jesus Christus sie bringt, sie lehnen es jetzt ab, dass Gott sich der Welt an Weihnachten, in der Passion, an Ostern, Pfingsten und Himmelfahrt auf besondere Weise als zum Greifen naher Gott gezeigt hat. Und doch werden auch sie die Barmherzigkeit Gottes zu spüren bekommen.

Zusammengefasst würde ich sagen: Alles, was sich christlich nennt, steht auf dem Fundament des Judentums. Wir sollen nicht versuchen, einander zu überbieten und uns selbst für klüger zu halten. Denn Gnade und Erlösung werden geschenkt. Weder Christen noch Juden haben etwas dafür getan. Israel also ist und bleibt erwähnt. Mit ‚Israel‘ ist freilich das auserwählte Volk als theologisch-geistliche Größe gemeint. Nicht zwangsläufig als politische Größe. Auch für den heutigen Staat Israel muss gelten: „Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Und Gott lässt sich ganz bestimmt nicht an irdische Machstrukturen binden. Hier müssen wir als Kirche sehr sehr vorsichtig sein, denn momentan gibt es viele christliche Gruppierungen (auch in meiner Heimatkirche), die das Judentum auf derart naive Weise unterstützen, dass sie zu allem Ja und Amen sagen, was der israelitische Staat tut. Solche Christen gehören tragischerweise auch zur Kernwählerschaft von Trump, Bolsonaro und ähnlich gestrickten Staatsführern, die ein Christentum propagieren, das sich auf die Seite Israels stellt und darum an anderer Stelle ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen geht. Die Antwort auf den Judenmord in 2. Weltkrieg kann nicht sein, wegen vermeintlicher Liebe zu Israel, Hass auf andere Mitmenschen zu schüren. 

Ich glaube, liebe Gemeinde, bei aller Spannung und Meinungsverschiedenheit gilt: Kirche ist ohne Israel nicht denkbar. Ob und wie genau Gott dereinst uns, die Juden und die ganze Menschheit, gemeinsam an den Tisch des himmlischen Festmahles bringen wird, das bleibt Gottes Geheimnis. Bis dahin gilt, was Paulus in einem anderen Brief schreibt: Der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.