Das Virus zur „Corona“ des Lebens machen oder: Wenn die Angst regiert


Dr. Renate Klein (Fogarasch - Hermannstadt)

„Fragen und Gedanken einer Coronadeprimierten“ – so untertitelt Dr. Renate Klein, Alttestamentlerin des „Theologischen Instituts“,  ihre Fragen und Hinterfragungen der Situation aus biblischer Sicht. Wir laden die Leserinnen und Leser ein, den sensiblen Gedankengängen zu folgen.

„Du aber bist heilig, der du thronst über den Lobgesängen Israels“, spricht der Beter von Psalm 22. Wie wahr! Aber wo bleiben heute die „Lobgesänge Israels“? Die Gotteshäuser sind geschlossen. Ein paar Geistliche sprechen allein in die Kamera und richten sich via Onlinemedien an ihre Gemeinden. Wer ein internetfähiges Endgerät besitzt, kann sich da einloggen und seine seelischen Bedürfnisse zu stillen versuchen, wer kein Gerät besitzt?

Ein Freund aus Deutschland berichtet von der Wiederaufnahme „sogenannter“ Gottesdienste: Vier Meter Abstand zwischen den Besuchern und kein Gesang. Wo sind sie unter diesen Umständen, die „Lobgesänge Israels“, die Gottes Thron tragen, die ihn erhöhen, ihn für alle sichtbar und erfahrbar machen? „Du aber bist heilig“. Heilig heißt abgesondert, nicht profan, nicht alltäglich, anders eben als wir Menschen mit unseren Unzulänglichkeiten. Wir haben ihn ganz abgesondert, den heiligen Gott, ihn in die Schublade verbannt und wohl verwahrt für bessere Zeiten. Wo ist die Allmacht Gottes in dieser Zeit, in der die Angst regiert? Die Angst scheint allmächtiger zu sein (ich benutze absichtlich den Komparativ, denn an der Allmacht Gottes möchte ich nicht zweifeln). Oder sollte ich besser sagen: Die Angst macht einige allmächtiger (auch hier der Komparativ, denn Allmacht steht Gott allein zu), jene, die mit erhobenem Zeigefinger vor die Kamera treten und im Brustton der Überzeugung verkünden, dass die restriktiven Maßnahmen unserem Schutz und unserer Sicherheit dienen.

Es ist schlimm, dass Menschen an diesem neuartigen Virus sterben, aber die Panikmache in den Medien, die „breaking news“ über weitere dreihundert Infizierte, zwanzig Tote und ganze Krankenhäuser oder Altenheime, die unter Quarantäne gestellt werden, die endlosen Talkshows über die brachliegende Wirtschaft, die Mängel im Unterrichtssystem, die Ergebnisse aus der Anti-Coronavirus-Impfstoff-Forschung lassen uns alles andere vergessen. Wie viele Herz- oder Krebskranke sterben in dieser Zeit, weil sie vielleicht nur noch in ungenügendem Umfang versorgt werden? Wie viele Karies verursachen schlimmere Infektionen, weil man lieber ein Aspirin nimmt oder einen Schnaps trinkt, als sein Leiden als Notfall einzustufen und einen Zahnarzt aufzusuchen? Wie viele Kinder weltweit werden nicht mehr gegen Polio und Masern geimpft, weil man das Risiko nicht eingehen möchte, sie mit dem Coronavirus anzustecken? Wie viele Knie- oder Rückenbeschwerden, Magengeschwüre, Gallenkoliken, Augenleiden usw. werden sich verschlechtern, weil sie nicht regelmäßig oder zur Zeit behandelt werden können? Selbst Blut spenden – wozu vor einiger Zeit noch von höchster Stelle aufgerufen wurde – geht nicht mehr überall, da die Blutkonserven nicht mehr abgeholt werden.

Die Angst regiert. Menschen zeigen andere Menschen an, weil sie sie verdächtigen, mit dem Virus infiziert zu sein oder weil sie aus der aufgezwungenen Isolation im Eigenheim „ausbrechen“, um ihrem Säugling Pampers oder Nahrung zu kaufen. Wer an dem Virus erkrankt, wird gemieden, geächtet, stigmatisiert. Die Bewohner der Orte, in denen Quarantänelager eingerichtet wurden, werden von ihrer Angst zu irrationalen Aussagen und Handlungen getrieben. Man hat Angst zu niesen oder zu husten und übt sich darin, das Räuspern möglichst zu unterdrücken oder zu kaschieren. Man hat Angst, mit jemandem in Verbindung gebracht zu werden, der positiv auf das Virus getestet wurde. Ja nicht auffällig werden, damit man nicht entdeckt wird! Weckt das nicht Erinnerungen an vergangene Zeiten?

Die Angst macht uns herzlos und unmenschlich. Ältere Menschen sollten zu ihrem Schutz möglichst zu Hause bleiben, heißt es. Aber wer versorgt die Alleinstehenden und Kranken? Vielleicht gibt es da jemanden, der ihnen freundlicherweise eine Tüte mit Lebensmitteln an die Tür hängt. Aber wer fährt einmal mit dem Staubsauger durch ihre Wohnung? Wer bezieht ihnen das Bett oder putzt ihnen das Klo, wenn sie dazu nicht mehr in der Lage sind? Wer spricht mit ihnen? Wer hört sich ihre Geschichten an?

Menschen sterben – am oder mit dem Coronavirus –: Wer begleitet sie auf dem letzten Stück ihres Lebensweges? Jemand in einem Plastikoverall mit Mundschutz, Schutzbrille, Visier und Handschuhen? Niemand hält ihnen die Hand. Sie können ihre Lieben nicht sehen. Wenn es vorbei ist, werden sie in einen schwarzen Plastiksack mit einem Namensschild gepackt. Die Angehörigen dürfen ihre Verstorbenen nicht mehr sehen. Und an der Beerdigung dürfen nur acht Personen teilnehmen. Pech für die zahlenmäßig großen Familien! Und jemanden in den Arm zu nehmen und ihn zu trösten, an der Schulter eines Angehörigen über den Verlust zu weinen, wenn man nicht in demselben Haus wohnt, ist nicht erlaubt. Die Angst nimmt uns selbst diese Möglichkeit, unsere Toten würdig aus dem Leben zu verabschieden. Die Gewissensbisse darüber, dass wir an der Situation Schuld tragen – das wird uns ja durch die apokalyptischen Szenarien in den Medien nahegelegt –, die bleiben und nagen an unserer seelischen Stabilität.

Leben mit der Angst – die Regierenden aller Länder haben die Lösung für dieses Problem: Gesichtsmasken und Handschuhe! Ist das – auch auf lange Sicht – die Art und Weise, wie wir leben wollen? Die Gesichtsmaske bietet Schutz – in gewis¬ser Weise sicher. Aber „schütze“ ich mich dadurch nicht auch vor frischer Atemluft? Ich atme ein, was ich ausgeatmet habe. Ich bleibe in mir selbst gefangen. Ist es das, was ich will? Ich soll Handschuhe tragen, sagt man mir, keine Flächen berühren, die häufig von anderen Menschen berührt werden, mir mit ungewaschenen Händen nicht im Gesicht herumwischen. Das alles kann helfen, eine Infektion zu vermeiden – ja –, aber hilft es mir zu leben? Ich soll mir eine möglichst sterile Umgebung schaffen, damit ich das Virus von mir fernhalte, aber ist die fast eines OPs würdige Sterilität, die ich mir im Idealfall durch alle Maßnahmen schaffen soll, die Umgebung, in der ich die nächsten Monate verbringen möchte?

Und was geschieht mit den Aggressionen, die sich wegen der Untätigkeit aufstauen und vielleicht an den Angehörigen des eigenen Haushalts ausgelassen werden? Welches Desinfektionsmittel hilft dagegen?

Was ist mit unseren Kindern, die langsam, aber sicher in den eigenen vier Wänden durchdrehen? Und was ist mit den Depressiven, den Suizidgefährdeten …? Mit denen, die kein Einkommen haben und den Hunger mehr als das Coronavirus fürchten?

Wir treten nicht gegen die Angst an, sondern lassen uns von ihr regieren. Was sind wir doch für jämmerliche „Kronen der Schöpfung“, denen Gott alles (außer sich selbst natürlich) untertan gemacht hat, wie es im ersten Kapitel der Bibel heißt? In dieser Zeit scheinen die Verhältnisse sich umgekehrt zu haben: Wir Menschen haben das Virus zur „Corona“ unseres Lebens gemacht und halten Gott, mit Gesichtsmaske und Handschuhen versehen, wegen der Ansteckungsgefahr auf Distanz.

„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost; ich habe die Welt überwunden“, sagt Jesus im Johannesevangelium. Gilt dieser Trost heute nicht mehr? Bleiben wir in der Angst gefangen und lassen uns von ihr regieren? Oder machen wir uns als Kirche Gedanken über unseren priesterlichen, diakonischen, seelsorgerlichen Auftrag – auch und gerade in Zeiten des Corona-Angst-Regimes?

Dr. Renate Klein, Fogarasch