"Gott wirkt meist leise in unser Leben ein"


Pfr. i.R. Imre István

Die schriftliche Predigt für den Dritten Sonntag nach Epiphanias hat uns der frühere Pfarrer von Broos, Imre István zur Verfügung gestellt. Pfr. i.R. István war auch Pfarrer in der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinde von Kitchener (Kanada) und wirkte bis zur Rente in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in Deutschland.

Liebe Leserinnen und Leser,

laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen gab es im Jahr 2017 weltweit über 68 Millionen Flüchtlinge, davon 40 Millionen Binnenflüchtlinge, also Menschen, die innerhalb des eigenen Landes vertrieben wurden. Fünf Jahre vorher waren es noch 45 Millionen, davon 28 Millionen Binnenflüchtlinge. Doch die Menschheit war schon immer in Bewegung, denken wir nur an die ersten Menschen, die sich, laut Wissenschaft, aus dem Herzen Afrikas über Europa und Asien und dann Amerika ausgebreitet haben, wobei jede Gruppe eine andere Entwicklung durchgemacht hat.

In Siebenbürgen hatten sich Menschen im 12. und 13. Jahrhundert aus Mitteleuropa zusammengefunden, die in dieser Gegend durch ihre Sprache, Glauben und Traditionen zur Gruppe der Siebenbürger Sachsen zusammengeschmolzen sind. Im 18. Jahrhundert kamen aus Österreich die Landler hinzu. Heute leben nach den Ereignissen im 20. Jahrhundert nur noch rund 10.000 Menschen dieser Gruppen in Siebenbürgen. In unserer Zeit klopfen aus unterschiedlichen Gründen, sei es aus Angst vor Krieg, um einer Hungersnot zu entfliehen oder dem Wunsch nach einem besseren Leben, Millionen von Menschen aus dem Osten und Süden an die Tore Europas. Wenn wir die Bilder von Menschen, die sich ein besseres Leben in den USA wünschen und verzweifelt die Grenzen der Länder in Südamerika stürmen in den Medien ansehen, können wir vielleicht verstehen, wozu der menschliche Überlebenswille führen kann.

Die Menschheit war, ist und wird auch in Zukunft immer in Bewegung sein. Daran wurde ich erinnert, als ich den für den 3. Sonntag nach Epiphanias empfohlenen Predigttext aus dem Buch Ruth gelesen habe:

1 Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. 2 Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda. Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. 3 Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. 4 Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, 5 starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. 6 Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. 7 Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, 8 sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. 9 Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten 10 und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. 11 Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? 12 Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, 13 wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen. 14 Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. 15 Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. 16 Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. 18 Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. 19 So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen. (Rut 1,1-19a)

Eine biblische Geschichte von Flucht, Rückkehr und Neuanfang. Gewiss in anderer Dimension. Es wird nur von einer Familie berichtet. Auch hier befinden sich Menschen in Bewegung und es erschließt sich uns, dass bei einem solchen Vorgang nicht nur der äußere, sondern auch der innere Mensch, seine Seele in Bewegung gesetzt wird.

Eine Familie, bestehend aus Frau, Mann und zwei Söhnen geraten in große Not und müssen schwere, existenzielle Entscheidungen treffen. Sie leben in Bethlehem, was übersetzt werden könnte mit „Haus des Brotes“ oder „Haus des Fleisches“. Ein Ort also, in welchem die Grundnahrungsmittel vorhanden waren. Doch auch dort kann es zu Katastrophen kommen. Eine Hungersnot, ausgelöst durch eine Naturkatastrophe oder Krieg, bricht in Bethlehem aus und die Familie entschließt sich in das fremde Land Moab zu ziehen. Dort waren die Lebensumstände besser. Die Entfernung war nicht so groß, dennoch lag das Land auf der anderen Seite des Toten Meeres und die Reise war nicht unbeschwerlich. Hier fand ein Prozess der erfolgreichen Integration statt, denn es wird uns berichtet, dass beide Söhne Moabiterinnen heirateten, ein Zeichen dafür, dass die Familie von der dortigen Bevölkerung freundschaftlich aufgenommen wurde.

Doch dann werden die Männer, der Vater und die beiden Söhne heimgerufen und Naomi, die Mutter der beiden Söhne beschließt, wieder nach Bethlehem, ihre alte Heimat, zurück zu kehren. Sie hatte erfahren, dass die Not in Bethlehem vorüber war, „dass der Herr sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte.“(Rut 1,6). Die beiden verwitweten Schwiegertöchter begleiten sie zunächst.

Naomi bekommt jedoch Gewissensbisse. Ist es gut, dass die beiden Frauen mit ihr mitkommen, dass sie Vertrautes für eine unsichere Zukunft auflassen? Sie selbst kannte ja Bethlehem, doch für Rut und Orpa, den beiden Schwiegertöchtern, war die Stadt mit ihren Menschen, der Sprache und den Traditionen fremd. Vielleicht hatten sie von ihren Männern davon gehört, dennoch wäre ihnen eine neue Umgebung zunächst fremd gewesen. Darum redet Naomi den beiden zu, doch nach Moab umzukehren und in der gewohnten Umgebung ihr weiteres Leben zu fristen und ihr Glück in der Gründung einer neuen Familie zu suchen und zu finden. Mit dem Segenswunsch „Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt.“, will sie die beiden zur Rückkehr bewegen.

Dem nun sich entfaltenden Gespräch widmet die Bibel mehrere Verse. Es ist nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen. Wir lesen über die beiden Frauen: „Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten“ (V.9). Später heißt es „…und weinten noch mehr“ (V.14) Das Weinen, ein Zeichen der inneren Bewegtheit, der Trauer, der Zerrissenheit, der Angst vor dem Ungewissen. Und ich denke mir: Wie viele Tränen sind geflossen, als die Siebenbürger Sachsen die Orte, die ihren Vorfahren und ihnen fast ein Jahrtausend zur Heimat geworden waren, aus welchen Gründen auch immer, verließen, um in die alte, neue Heimat zurückzukehren oder eine solche in weiten Ländern zu suchen? Dieses Sich- Lösen ist nicht einfach. Es ist ein Prozess, der ein Leben lang dauern kann und aus den Gesprächen, die wir mit Menschen aus Siebenbürgen führen, hören wir heraus, dass die Frage nach den eigenen Wurzeln oft aufkommt und sie darüber nachdenken, wo sie z. B. letzte Ruhestätte haben möchten. Ich erinnere mich an eine Auszeit, während der ich im Pfarrhaus in Großau wohnen durfte. Im Schrank des Pfarramtes wurden mehrere Urnen mit der Asche von in der Ferne verstorbenen Großauern aufbewahrt. Sie sollten im Sommer, wenn die Verwandten zu Besuch kamen, beigesetzt werden.

Und nun geschieht in unserer Geschichte etwas, was uns zum Spiegelbild werden könnte: Orpa kehrt nach Moab zurück und Rut folgt Naomi nach Bethlehem. Die Menschen sind nicht alle gleich. Auch das Zurückkehren oder Bleiben in dem Gewohnten ist nicht einfach. Orpa hat ihren Mann verloren. Jetzt verliert sie auch die Schwiegermutter und Schwägerin. Ihre Entscheidung ist gefallen. Sie kehrt in das Gewohnte zurück. Genau so entschieden ist auch Rut: „Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte.“(V.16a) Naomi respektiert beide Entscheidungen und hat Verständnis für beide, denn sie möchte, dass beide glücklich werden und wünscht „Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet.“(V.9). Dass jede, die Gehende und die Bleibende Ruhe für ihren Neuanfang braucht und nicht von Gewissensbissen wegen ihrer Entscheidung geplagt wird, ist Naomi wichtig. Sie weiß jedoch auch, dass diese Ruhe nur von Gott kommen kann. Demselben Gott der sie durch die beiden Schwiegertöchter in der schweren Lebenssituation, als sie ihren Mann und die beiden Söhne verloren hatte, Barmherzigkeit erfahren ließ. In Klammer sei hier an die Jahreslosung 2021 erinnert: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“(Lk.6,36)

Rut bekräftigt ihre Entscheidung mit den Worten, die den meisten unter uns bekannt sein könnten: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.“ (V.16b-17) Diese Worte werden oft von Ehepaaren für den Traugottesdienst ausgesucht und ein Teil davon ist in das Trauversprechen aufgenommen worden:“ ... und allezeit die Ehe mit ihm/ihr nach Gottes Willen führen, bis der Tod euch scheidet?“

Gleichzeitig aber ist es auch ein Bekenntnis zur Akzeptanz des anderen in dessen Land oder Stadt ich mich entschlossen habe zu gehen. Gepaart mit der Hoffnung, dass ihre Integration in der neuen Umgebung gelingen wird, ist die Bereitschaft von Rut die Werte der anderen sich anzueignen und danach zu leben. Sie geht noch weiter: Sie will auch den Glauben der Menschen in Bethlehem annehmen.

Und die Geschichte findet ein gutes Ende: Rut heiratet Boas und wird zur Urgroßmutter Davids aus dessen Geschlecht Josef stammt und damit eine Verwandtschaft zu Jesus besteht.

So wirkt Gott bei Rut, so wirkt er über Generationen hinweg bis hinein auch in unser Leben – wenn wir uns ihm anvertrauen und wir unsere Zuversicht auf ihn setzen. Wir müssen vielleicht mehrere Jahre darauf warten um rückblickend zu erkennen, dass Gott meistens leise in unser Leben einwirkt.

Gott segne unseren gemeinsamen Weg, den wir im Licht, das uns aus Bethlehem strahlt, gehen dürfen. Amen.